Die echte Geschichte: Aktives Zuhören

Alle Zufälle sind zufällig

Sie ist eine Immigrantin. Sie spricht Ukrainisch, Russisch, Englisch und ein wenig Deutsch. Doch in der Stadt, in der sie lebt, spricht man vor allem Französisch.

Eines Tages fährt sie mit dem Bus. Ein Mann sitzt ebenfalls im Bus – jemand, der offenbar das Bedürfnis hat, etwas mitzuteilen. Oder vielleicht ist es ihm egal, wer ihm zuhört, solange er seine Gedanken aussprechen kann?

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Natürlich spricht er Französisch. Er wendet sich an sie und beginnt zu reden. Automatisch nickt sie – eine instinktive Reaktion, eine Art aktives Zuhören. Haben Sie davon schon gehört?

Für ihn ist das Nicken Bestätigung genug. Er fühlt sich ermutigt und spricht weiter. Seine Geschichte wird immer lebhafter, bunter, voller Details.

Doch je länger er redet, desto schwieriger wird es für sie, ihm klarzumachen, dass sie kein Französisch versteht. Sie nickt weiter, wahrscheinlich sogar im richtigen Rhythmus, sodass es ihm völlig reicht. Die Angst, dass ihre schweigende Lüge auffliegt, ist unbegründet. Er erzählt seine ganze Geschichte – von Anfang bis Ende – und sie nickt dazu, ohne ein einziges Wort zu sagen. Es scheint, als brauche er gar keinen echten Austausch, nur einen Zuhörer. Es dauert etwa zehn Minuten. Genau, es ist ein ernster Monolog.

Endlich erreicht sie ihre Haltestelle. Sie weiss natürlich, wie man sich auf Französisch verabschiedet. „Au revoir, Monsieur“, sagt sie – sogar ohne Akzent. Dann steigt sie aus, atmet tief durch.

Jetzt hat sie selbst das dringende Bedürfnis, jemandem etwas mitzuteilen.

Übrigens, verstehen Sie Deutsch?